Gelebte Inklusion – ein fairer Umgang miteinander

Birger Höhn, ein Botschafter für Inklusion

Am Sommercamp für selbstbestimmtes Leben 2017, in Graz, haben wir Birger Höhn als engagierten Kämpfer für Inklusion kennengelernt.

Die Teilnehmer des Sommercamps sitzen im Sitzungssaal des Grazer Rathauses.
Die Teilnehmer des Sommercamps 2017 beim Empfang im Rathaus Graz. in der ersten Reihe sitzen Ottmar Miles-Paul und Birger Höhn (von links)

Stellvertretend für alle TeilnehmerInnen des Sommercamps haben wir ihn und Ottmar Miles-Paul um Interviews zu ihrem Engagement, ihrem Leben und die Verbindung zu den SDG gebeten.

Birger Höhn ist Mitte 40. Er lebt in Dresden und engagiert sich unter anderem für gelebte Inklusion, für Gleichberechtigung und die Umsetzung der bereits 2009 verabschiedeten UN-Behindertenrechtskonvention. Seit 2012 ist er aktives Mitglied der Partei Die Linke und ist vor allem in den Bereichen Sozial- und Behindertenpolitik tätig. Dies sind nur einige der Tätigkeiten, die Birger Höhn ausübt.

Im Oktober 2016 wurde Birger im Zuge eines Projektes der Interessensgemeinschaft Selbstbestimmt Leben e.V.  zum Inklusionsbotschafter ernannt. Ein Auftrag, den Birger, so wie wir ihn kennengelernt haben, hervorragend absolviert, denn Inklusion spielt in seinem Leben immer schon eine Rolle.

Durch einen Sauerstoffmangel bei seiner Geburt, lebt er mit einer Behinderung. Heute sagt er über sich, dass es das Produkt Birger Höhn, nicht ohne das Produkt Autismus gäbe und, dass ihm der Autismus Kontakte zu vielen Menschen geebnet hat, die er sonst womöglich nicht kennen gelernt hätte.

Birger Höhn hat sich die Zeit genommen mit uns über seine Arbeit, sein Buch „Innenansicht eines Menschen mit Autismus“, das Thema Inklusion, sowie die SDG 17 und Menschen mit Behinderung zu sprechen.

Interview mit dem Inklusionsbotschafter

Wir haben die Ziele 8, 10 und 16 und einige der Unterziele herausgenommen und Birger zu diesen befragt.

Fragen an Birger zu Ziel 8:

8. Ziel: gute Arbeitsplätze und wirtschaftliches Wachstum
8. Ziel: gute Arbeitsplätze und wirtschaftliches Wachstum

Ziel 8: Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern.

Zutreffende Unterziele:

Ziel 8.5: Bis 2030 produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle Frauen und Männer, einschließlich junger Menschen und Menschen mit Behinderungen, sowie gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit erreichen.

Ziel 8.6: Bis 2020 den Anteil junger Menschen, die ohne Beschäftigung sind keine Schul- oder Berufsausbildung durchlaufen, erheblich verringern.

Die Arbeit in den Werkstätten hat dich aufgefangen, bzw. dir deinen Wiedereinstieg in die Arbeitswelt ermöglicht, nach dem du die Ausbildung zum sozialpädagogischen Assistenten abgebrochen hast.

Frage 1: Wie wichtig sind deiner Meinung nach die Arbeitsmöglichkeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderung?

Birger: Ich selbst bin zurzeit vollbeschäftigt in einer Werkstatt. Im vergangenen Jahr konnte ich ein Außenpraktikum absolvieren. Derzeit gibt es zwei Angebote für eine Arbeit außerhalb der Werkstatt.

Frage 2: Wie sieht das Arbeitsverhältnis in den Werkstätten aus? Was kann verbessert werden?

Birger: Die Arbeit in den Werkstätten bringt sowohl Vorteile als auch Nachteile mit sich. Als positiv erachte ich, dass es eine geregelte Tagesstruktur gibt. Viele Menschen mit Behinderung sind arbeitslos. Für sie ist es wichtig, dass es Werkstätten gibt. Neben dem so erschlossenen sozialen Umfeld mit Kollegen und Gruppenleitern, gibt es in den Werkstätten zahlreiche Förderangebote wie Physio- und Ergotheraphie und arbeitsbegleitende Maßnahmen. Zu diesen zählen zum Beispiel Sing- und Spielrunden. Leider ist die Arbeit in den Werkstätten meist sehr eintönig und vor allem sehr schlecht bezahlt – wie das gesamte Sozialsystem in Deutschland. In den Werkstätten erhält man bei einer Vollzeitbeschäftigung €130,48 zuzüglich einer Erwerbsminderungsrente.
Selbstbestimmtes Leben schätze ich sehr, doch die Förderschulsysteme und Fördersysteme sind überregelt. Auf Unterschiede der Menschen wird nicht eingegangen.

Frage 3: Gibt es in den Werkstätten Förderungen für MitarbeiterInnen um diese auf einen Job außerhalb der Werkstatt vorzubereiten?

Birger: Im Bundesteilhabegesetz ist ein Budget für Arbeit vorgesehen. Dieses soll Anstellungsmöglichkeiten in der Außenwelt für Menschen mit Behinderung fördern. Die Werkstätten haben das Ziel, die dort arbeitenden Menschen fit für einen Job außerhalb zu machen. Als Einstieg dienen Praktika, bei denen man noch bei der Werkstätte angestellt ist und meist Sonderzulagen von den Firmen, in denen man arbeitet bekommt.

Frage 4: Wie würdest du „gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit“ definieren, zum Beispiel in Hinblick darauf, dass der Lohn für die Arbeit in der Werkstätte ein Taschengeld ist und keine Pensionsversicherung besteht?

Birger: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit wäre schön! Ich habe nachrecherchiert, was ein Facharbeiter im Bereich Metall, in dem ich derzeit tätig bin, für seine Dienstleistungen erhält. Der Lohn ist deutlich höher!
Rechtlich gesehen wird das Arbeitsverhältnis in einer Werkstatt „Beschäftigung“ genannt. Es ist aber Arbeit, die wir leisten. Mein Wunsch wäre es, dass Betriebe die Aufträge direkt an Werkstätten vergeben und  alle Produkte, die von Menschen mit Behinderung hergestellt wurden erkennbar beschriftet werden, denn das sind gar nicht so wenige. Ich möchte Inklusion so bei den Menschen verankert wissen, dass die Werkstätten überflüssig werden!

Frage 5: Du hast einen staatlich anerkannten Realschulabschluss, eine abgeschlossene Ausbildung zur Bürofachkraft, einige Praktika und alles den „normalen Richtlinien“ entsprechend.
Wie wichtig war es für dich, einen Abschluss und deine Ausbildung nach „normalen Richtlinien“ zu machen. Wie wichtig war dies für deinen weiteren Werdegang?

Birger: Meine Mittlere Reife habe ich auf einer Sonderschuleinrichtung gemacht und meine Ausbildung zur Bürofachkraft in einer Berufsbildungseinrichtung für Menschen mit Behinderung – trotzdem nach normalen Richtlinien und das war sehr wichtig für mich. In der Ausbildungsverordnung ist es wichtig, dass mehr Inklusion ermöglicht wird! Beispielsweise auch in Heilberufen, das war in der Vergangenheit nicht der Fall!

Fragen an Birger zu Ziel 10

10. Ziel: reduzierte Ungleichheiten
10. Ziel: reduzierte Ungleichheiten

Ziel 10: Ungleichheiten in und zwischen Ländern verringern.

Zu treffende Unterziele:

10.1: Bis 2030 nach und nach ein über dem nationalen Durchschnitt liegendes Einkommenswachstum der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung erreichen und aufrechterhalten.

10.2: Bis 2030 alle Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Behinderung, Rasse, Ethnizität, Herkunft, Religion oder wirtschaftlichem oder sonstigem sozialen Status zu Selbstbestimmung befähigen und ihre soziale, wirtschaftliche und politische Inklusion fördern.

10.3: Chancengleichheit gewährleisten und Ungleichheiten der Ergebnisse reduzieren, namentlich durch die Abschaffung diskriminierender Gesetze, Politiken, Praktiken und die Förderung geeigneter gesetzgeberischer, politischer und sonstiger Maßnahmen in dieser Hinsicht.

10.4: Politische Maßnahmen beschließen, insbesondere fiskalische, lohnpolitische und den Sozialschutz betreffende Maßnahmen, und schrittweise größere Gleichheit erzielen.

Frage 6: Dein politisches und gesellschaftliches Engagement hat nach dem Kirchentag 1995 begonnen. Was hast du bei diesem Kirchentag erlebt, was war der Auslöser für deine bis heute aktive Tätigkeit in Politik und Gesellschaft?

Birger: Ich bin in einem weltoffenen Elternhaus, das Mitte links orientiert war, aufgewachsen. Unsere Eltern haben das politische und gesellschaftliche Interesse immer gefördert. Ich habe mir dann selbst die Frage gestellt, ob ich das will. Durch meine Behinderung bin ich viel in Kontakt gekommen mit der Sozial- und Schwerbehindertenpolitik und bin 2006 in der Partei Die Linken gelandet.

Frage 7: Zu deinen politischen Steckenpferden zählen die Entwicklungspolitik, Fairer Handel, die Lokale Agenda 21, und die UN Behindertenrechtskonvention. Was hat sich seit deiner Anfangszeit in der Politik geändert? Wo konntest du in deinen Tätigkeiten in der Politik mitwirken?

Birger: Die lokale Agenda 21 ist in den letzten Jahren ins Hintertreffen gekommen und eingeschlafen. Die UN Behindertenrechtskonvention gibt es seit 10 Jahren. Seither hat sich viel getan, auch in Deutschland. Ich selbst konnte viel im Kleinen schaffen. Zum Beispiel konnte ich in der eigenen Partei und in der Gesellschaft viel Sensibilisierung schaffen. Die Bundeskreisabgeordnete hat meine Teilnahme am Sommercamp in Graz unterstützt. Der Verein Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland, Ottmar und viele Aktivisten setzten sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung öffentlich ein. 2016 gab es beispielsweise  eine Protestaktion gegen das Bundesteilhabegesetz, bei der sich RollstuhlfahrerInnen an das Reichstagsufer ketteten. 

Frage 8: Wo siehst du die Parallelen zu den SDG 17 und der Agenda 2030? Was hat sich bereits verändert? Wo besteht Aufholbedarf?

Birger: Generell gibt es Parallelen zwischen der Lokalen Agenda 21, der UN Behindertenrechtskonvention und den SDG 17, beziehungsweise gibt es ein generelles, gemeinsames Ziel – eine inklusivere Gesellschaft. Inklusion ist in den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung inkludiert.
Mein Wunsch ist es, dass es Sanktionsmöglichkeiten, finanzielle Konsequenzen, in der UNO gibt, für Staaten, die sich nicht an das Behindertengleichstellungsgesetz halten.

Frage 9: Persönliches Budget für Menschen mit Behinderung: Was ist das persönliche Budget? Wer bekommt das persönliche Budget? Was verändert sich durch den Erhalt des persönlichen Budgets?

Birger: Das persönliche Budget gibt es in Deutschland seit 2009. Bisher gibt es leider noch sehr wenige, die dieses Angebot annehmen. Ich selbst erhalte das persönliche Budget. Das bedeutet, dass ich von einem Kostenträger Geld bekomme, das ich für bestimmte,  von mir benötigte Dienstleistungen selbst ausgeben kann. Früher hat der Kostenträger direkt einen Leistungsträger bezahlt. Für mich bedeutet das persönliche Budget, mehr Zeit für Gespräche und Betreuung mit dem Leistungsträger. Leider ist die Verfahrensdauer bis ich das Geld bekomme meist sehr lange und der Kostenträger setzt seine Grenzen häufig nach den günstigsten Anbietern.

Fragen an Birger zu Ziel 16

16. Ziel: Frieden und Gerechtigkeit
16. Ziel: Frieden und Gerechtigkeit

Ziel 16: Friedliche und inklusive Gesellschaft für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen.

Zutreffende Unterziele:

16.3: Die Rechtsstaatlichkeit auf nationaler und internationaler Ebene fördern und den gleichberechtigten Zugang aller zur Justiz gewährleisten.

16.7: Dafür sorgen, dass die Entscheidungsfindung auf allen Ebenen bedarfsorientiert, inklusiv, partizipatorisch und repräsentativ ist.

16.10: Den öffentlichen Zugang zu Informationen gewährleisten und die Grundfreiheiten schützen, im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften und den völkerrechtlichen Übereinkünften.

16.b: Nicht diskriminierende Rechtsvorschriften und Politiken zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung fördern und durchsetzen.

Du hast in deinem Buch „Innenansicht eines Menschen mit Autismus“ versucht in leicht verständlicher Sprache zu schreiben, damit auch Menschen mit Lernschwierigkeiten dein Buch verstehen.

Frage 10: Wie wird Inklusion durch leichte Sprache in der Politik umgesetzt?

Inklusionsbotschafter Birger Höhn sitzt ganz entspannt an einem Tisch, vor Beginn seiner Lesung zum Buch "Innenansicht eines Menschen mit Autismus"
Inklusionsbotschafter Birger Höhn ganz entspannt vor Beginn seiner Lesung zum Buch „Innenansicht eines Menschen mit Autismus“

Birger: In Österreich gibt es das Erwachsenenschutzgesetz, welches die Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigung in den Mittelpunkt stellt. So können beispielsweise Behördenbescheide, Telefonrechnungen mit QR-Code in leichte Sprache übersetzt werden. So etwas gibt es in Deutschland nicht! Meine Sozialbescheide verstehe ich regelmässig nicht.
Die derzeitige rot-rot-grüne Kommunalregierung fordert mehr leichte Sprache auf Kommunalebene ein. Ich bin gespannt was passiert.

Frage 11: Was bedeutet Inklusion für dich? Wie kann Inklusion in der Gesellschaft und durch die Politik verwirklicht werden?

Birger: Meiner Meinung nach fehlen öffentlich wirksame Aktionen, die mehr Bewusstsein für Menschen mit Behinderung bringen. Leider wird nur wenig bis gar nichts in den Medien berichtet. In den sozialen Netzwerken erhalte ich mediale Unterstützung durch Kobinet. In meinem persönlichen Umfeld wird das Thema Menschen mit Behinderung immer wieder thematisiert und Bewusstsein geschaffen.

Birger: Zum Abschluss unseres Interwies und für die Zukunft wünsche ich mir in der medialen Öffentlichkeit mehr Inklusion. Aber auch, dass sich mehr Menschen für eine inklusivere Gesellschaft einsetzen und dass der Kampf der Betroffenen bewusster wird.

Wir bedanken uns bei Birger Höhn für das sehr interessante Interview, bei dem die Zeit einfach verfolgen ist.

Weitere Berichte und Information über Birger und sein Buch „Innenansicht eines Menschen mit Autismus“: